Warum machen wir Klassenspiele?
Ab der ersten Klasse machen wir in unserem Unterricht immer wieder Klassenspiele. In der ersten und zweiten Klasse sind diese noch chorisch gesprochene Spiele, und die SchülerInnen treten in Gruppen, aber auch schon ab und an allein in den Vordergrund. Ab Klasse drei werden die Rollen schon größer, und auch das alleinige Sprechen und Spielen wird immer weiter geübt. In diesem Alter sind die Kinder im Rubikon und nehmen sich und die Welt in ganz neuer Weise wahr. Das Gegenüber gewinnt immer mehr an Bedeutung, und auch die Kinder selbst stellen sich ganz anders in die Welt.
Themen aus dem Hauptunterricht werden in den Theaterstücken aufgegriffen und so vertieft behandelt (Weihnachtsspiele, Fabeln, Handwerkerspiele etc.). Je älter die SchülerInnen werden, desto mehr gestalten sie die Theaterstücke mit und bringen viele eigene Ideen ein. Dabei geht es nicht nur um das Spielen an sich – auch die Kulisse, Kostüme und Musik werden wie selbstverständlich eingebaut. So üben wir, den Überblick zu behalten bei Auf- und Umbauten sowie das Sprechen vor großen Gruppen. Sich ausprobieren dürfen, in eine neue Rolle schlüpfen – das bieten alle Klassenspiele, nicht nur bis Klasse 7. Alle diese Aufführungen finden entweder im Klassenrahmen oder auf der „kleinen“ Gartensaalbühne statt.
In der 8. Klasse stehen dann die SchülerInnen zum ersten Mal auf der großen Bühne und zeigen dort, was sie erarbeitet haben. Acht Jahre sind sie nun in der Schule und haben geübt, vor Gruppen zu sprechen und allein dabei vor dieser zu stehen.
Ab der zweiten Klasse wurden die Zeugnissprüche gesprochen, welche eine gute Vorbereitung sind, einen Text auswendig zu lernen und diesen dann in unterschiedlicher Form zu präsentieren – eine Herausforderung, der sich unsere SchülerInnen jede Woche aufs Neue stellen. Nun, in der 8. Klasse, wird all dieses Geübte benötigt, um den Saal mit der Stimme und ihrer Präsenz füllen zu können.
Das Malen und das Zeichnen, welche auch ab der ersten Klasse geübt wurden, werden nun für die Gestaltung der Kulissen und des Bühnenprospekts benötigt. Perspektivisches Zeichnen, die Wirkung von Farben, Schatten und vieles mehr fließen hier zusammen. Auch die Gestaltung von Plakat und Programmheft gehört zum Klassenspiel. Dafür benötigen sie vorher Erlerntes und lernen beim gemeinsamen Entwickeln einiges dazu.
Erworbene handwerkliche Fähigkeiten aus dem Werkunterricht werden benötigt, um die Kulissen zu bauen. Durch die Tätigkeiten in der Handarbeit sind die SchülerInnen in der Lage, auch die Kostüme mitzugestalten. Musikalische Begleitung durch Singen und das Spielen von Instrumenten geben den Theaterspielen eine ganz besondere Atmosphäre.
Es fließt also alles zusammen, was die SchülerInnen in den Jahren vorher erarbeitet haben.
Ebenso wichtig ist aber auch der Zeitpunkt der beiden großen Theaterspiele. Das erste große Klassenspiel in der 8. Klasse fällt in das gleiche Jahr wie das Ende der „KlassenlehrerInnenzeit“. Es steht ein Lösungsprozess an: Es beginnt bald ein ganz neuer Abschnitt. Die SchülerInnen treten langsam in die Oberstufe ein. Das selbständige Gestalten wird hier immer wichtiger. Es ist nicht mehr jeden Tag eine vertraute Person da. Die SchülerInnen können bei so einem Probenprozess erleben, wie sie immer stärker die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen können bzw. müssen.
In all diesen Prozessen begleiten wir die SchülerInnen sehr intensiv, geben ihnen aber auch zunehmend die Verantwortung beim Tun selbst.
In Klasse 12 wird das, was wir schon in der 8. Klasse angelegt haben, erweitert. Hier beginnt es schon mit der Stückauswahl. Die Klassen machen sich selbst auf die Suche nach passenden Stücken. Hier gilt es schon einiges zu beachten, was über den eigenen Horizont hinausgeht: Welches Thema soll das Stück haben? Wie viele Rollen benötigen wir? Sind überhaupt Aufführungsrechte vorhanden, und was kosten diese? Wie kann ich die Klasse durch meine Vorstellung vielleicht auch von einem Theaterstück begeistern?
Ist dies geschafft, so muss es gelingen, die Besetzung festzulegen. Hier geht es wieder um den Blick auf das Ganze. Verschiedene Bedürfnisse und Wünsche prallen aufeinander und müssen unter einen Hut gebracht werden.
Steht die Besetzung, werden alle Themen, die sich um eine Inszenierung bewegen, relevant: Wie soll das Ganze inszeniert werden – klassisch oder modern? Wie wird das Bühnenbild, wie die Kostüme? Müssen wir das Stück noch an die Gegebenheiten der Klasse und der Bühne anpassen? All diese Fragen können nicht mehr allein von uns LehrerInnen geklärt werden. Die SchülerInnen sind in der 12. Klasse wiederum an einem Punkt in ihrer Schullaufbahn angelangt, an dem es gilt, mehr und mehr Entscheidungen selbst zu treffen, in der Gruppe zu diskutieren und dann auch die Konsequenzen zu tragen, die diese mit sich bringen. Bei einem Prozess, wie ihn das Einstudieren eines Theaterstücks mit sich bringt, können die SchülerInnen schnell bemerken, was für eine Wirkung ihr Handeln nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Gemeinschaft oder andere an der Inszenierung Beteiligte hat.
Nehmen die SchülerInnen die Herausforderungen an und machen sie zu ihrer eigenen? Ideen, die vorhanden sind, bleiben so lange Ideen, bis sie ergriffen werden. Wer nicht mitgestalten will, muss eventuell auch lernen, dass er dann kein Entscheidungsrecht mehr hat.
Die Klassenspiele bieten also viele Möglichkeiten, Gelerntes anzuwenden, Selbstwirksamkeit zu erleben und mit Schwierigkeiten bei sich und vor allem in der Gruppe umzugehen. Außerdem bieten Klassenspiele die Möglichkeit, sich Herausforderungen zu stellen und über sich hinauszuwachsen.
Die Herausforderungen der jeweiligen Entwicklungsphase können durch den Prozess bei den beiden großen Klassenspielen unterstützt werden – in Klasse 8: Loslösung von Altem (Pubertät), und in Klasse 12: Übernahme von Verantwortung, nicht nur für mich selbst (der Weg zum Erwachsenen).
Florian Apportin (Lehrer)

